Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte am 30. und 31. Mai Portugal. Der sozialistische Ministerpräsident António Costa hatte die Christdemokratin eingeladen. Es war Merkels zweiter Amtsbesuch in Portugal. Der erste hatte sie 2012 noch in einen Krisenstaat geführt. Besuchte sie jetzt ein Musterland? Hier haben wir das Programm der deutschen Regierungschefin zusammengefasst und beantworten die wichtigsten Fragen zu den deutsch-portugiesischen Beziehungen. Vor allem in der Wirtschaft des Landes scheint ein erstaunliches Wunder zu geschehen – mit deutscher Beihilfe.
Inhaltsverzeichnis
Was stand auf Angela Merkels Besuchsprogramm in Portugal?
Die Kanzlerin startete ihren offiziellen 24-stündigen Besuch am Mittwoch, 30. Mai, im Norden von Portugal – in Braga und Porto. Erste Station war das neue Technologie- und Entwicklungszentrum, das Bosch in Braga einweihte. Hier wird am autonom fahrenden Auto der Zukunft gearbeitet. Danach besichtigte sie das i3S, das wissenschaftliche Institut für Forschung und Innovation im Gesundheitsbereich in Porto. Mit Doktoranden der Universität diskutierte Merkel im Rahmen eines "Bürgerdialogs" über die Zukunft des europäischen Projekts. Für den Transfer zwischen Braga und Porto nutzte die deutsche Delegation Fahrzeuge, die im Werk der Volkswagen-Tochter Autoeuropa in Palmela produziert werden. Es handelt sich um die Modelle T‑Roc und Sharan.
Am Donnerstag reiste Merkel nach Lissabon. Dort traf sie zunächst informell mit dem Vorsitzenden der konservativen PSD-Partei, Rui Rio, zusammen. Danach wurde sie im Palast von Belém am Vormittag von Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa empfangen. Anschließend diskutierte Merkel mit Ministerpräsident António Costa vor allem die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und den neuen mehrjährigen Finanzrahmen. Dem Vernehmen nach war auch die Flüchtlingssituation ein zentrales Thema. Außerdem stand für die deutsche Delegation noch ein breit angelegter Meinungsaustausch mit hochrangigen portugiesischen Regierungsbeamten auf dem Programm. Danach gaben der portugiesische Premierminister und die deutsche Bundeskanzlerin Presseerklärungen ab.
Merkel zeigte sich dabei aufgeschlossen, mit einer neuen italienischen Regierung zusammenzuarbeiten. Costa drängte auf ein schnelles europäisches Handeln, um ein Ausbreiten italienischer Probleme auf andere Teile der Eurozone zu verhindern. „Wir müssen die EU-Reformen voranbringen“, forderte Merkel. Sie lobte Portugals Erholung von der Schuldenkrise in den Jahren 2011 bis 2014. Es gebe jetzt "eine optimistischere Situation" als noch bei ihrem letzten Besuch 2012, sagte die deutsche Regierungschefin.
Wie steht es um die deutsch-portugiesischen Beziehungen?
Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte ein Land, das als ehemaliges Sorgenkind Europas gerade dabei ist, sich von einer schweren finanziellen und wirtschaftlichen Krise zu erholen. Deutschland ist dabei ein wichtiger Partner und sogar ausländischer Hauptinvestor. Die portugiesische Zeitung Diário de Notícias berichtet am Mittwoch, dass deutsche Unternehmen nach dem portugiesischen Staat bereits zu den größten Arbeitgebern in Portugal zählen. Mancher spricht schon von einem portugiesischen Wirtschaftswunder. Merkel wollte sich bei ihrer Portugal-Visite genauer anschauen, was es mit diesem Wunder auf sich hat.
Die Regierung in Lissabon betont, dass es zwischen Portugal und Deutschland einen grundsätzlichen Konsens über die wichtigsten Diskussionspunkte auf europäischer Ebene gebe. Höchste Priorität räumt sie der Reform der Eurozone ein. Seit Januar ist der portugiesische Finanzminister Mario Centeno, ein Mann der Algarve (siehe unser Beitrag Algarve-Spross leitet Eurogruppe), Chef der so genannten Eurogruppe, also des Rates der Finanzminister aus den Euro-Ländern. Seine Position ist, dass die Wirtschafts- und Währungsunion mit tiefgreifenden Veränderungen zu einem Raum der Konvergenz gemacht werden sollte, um Asymmetrien zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten zu überwinden. Gegen diese Haltung gibt es bereits Widerspruch aus den Niederlanden und aus Skandinavien.
Im diesjährigen Karneval, dessen Algarve-Hochburg die Stadt Loulé ist, war die deutsche Bundeskanzlerin, wie schon in den Vorjahren, eine gern karikierte Figur. Mit knappem Röckchen tanzte sie auf einem Umzugswagen vor den Augen des Eurogruppen-Chefs Mario Centeno. In unserem Beitrag "Merkel: Kopf schon gerollt – an der Algarve" haben wir darüber berichtet.
Wirklich ein Wunder? Der Zustand der portugiesischen Volkswirtschaft
Die portugiesische Wirtschaft ist 2017 um 2,7 Prozent gewachsen. Das ist der höchste Wert seit dem Beginn dieses Jahrhunderts. Die Arbeitslosenrate sank im März auf 7,5 Prozent. Zum Höhepunkt der Krise, vor fünf Jahren, hatte sie 17,5 Prozent erreicht. Das Defizit des Staatshaushalts wird 2018 voraussichtlich unter einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegen. Bei so vielen positiven Daten sprechen einige schon von einem Wunder. Es setzt sich aus wirtschaftlichem Wachstum, Verringerung der Staatsschulden, Austritt aus dem Verfahren bei übermäßigem Defizit und der Verbesserung der Ratings zusammen. Doch zu beachten ist: Portugals Staatsverschuldung konnte zwar von mehr als 130 Prozent inzwischen auf 125,7 Prozent des BIP gesenkt werden. Aber immer noch gehört sie zu den höchsten in Europa und nimmt in absoluten Werten stets zu.
Ist deutsche Skepsis beim Blick auf das Wunder von Portugal angebracht?
Deutschland war in der Vergangenheit ganz besonders skeptisch, wenn es um die Bewertung der portugiesischen Finanz- und Wirtschaftslage ging. Im Herbst 2015 übernahm eine linksgerichtete Regierung die Amtsgeschäfte, die von zwei euroskeptischen Parteien gestützt wird. Zudem versprach Ministerpräsident Antonio Coasta den Portugiesen, das Entbehrungen bedeutende Blatt der Austeritätspolitik zu wenden. Manche Politiker wie etwa der frühere deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble befürchteten deshalb, dass es nach der ersten im Jahr 2011 eine zweite portugiesische Rettung geben müsse. Doch bisher ging – wie die oben genannten Kennziffern zeigen – alles gut.
Was sind die Motoren des wirtschaftlichen Wunders in Portugal?
Kurz gesagt: wachsende Exporte, zunehmender Konsum und ein Boom im Tourismus, vor allem in Portugals bedeutendster Fremdenverkehrs-Region, der Algarve. In zehn Jahren verdoppelte sich die Zahl der Hotelübernachtungen in Portugal. Hotels und Restaurants schaffen viele Arbeitsplätze, allerdings oft zu prekären Bedingungen. Von zehn Beschäftigten, die einen neuen Job antreten, erhalten nur vier den Mindestlohn von derzeit 580 Euro im Monat. Zur Zeit des Amtsantritts von Ministerpräsident António Costa lag dieser noch bei 505 Euro. Im Wahljahr 2019 will der Regierungschef eine Erhöhung auf 600 Euro beschließen lassen.
Welchen Anteil am Wunder hat die portugiesische Regierung?
Auf dem Parteitag der Sozialisten in Lissabon konnte Ministerpräsident António Costa dieser Tage selbstbewusst erklärten: „Gute Politik bringt gute Resultate“. Costa vermag es, nach den traurigen Krisenjahren viel Optimismus zu versprühen – eine nicht zu unterschätzende Antriebskraft für eine Volkswirtschaft. Seine Partei PS schneidet in regelmäßigen Wählerumfragen bei rund 40 Prozent der Stimmen ab.
Allerdings: Wegen der hohen regelmäßigen Zinszahlungen für die gewaltigen Staatsschulden kann sich die Regierung Costa keine großen Sprünge erlauben. Sie nutzt aber die Gunst gesunkener Zinsen einerseits für die Sanierung des Staatshaushalts und andererseits für die Erhöhung von Renten und Beamtengehältern. Doch das Geld für dringend notwendige Investitionen in den Bereichen Gesundheit und Bildung fehlt noch immer.
Es bleibt abzuwarten, ob Portugal dem Strudel infolge der italienischen Regierungskrise trotzen kann, der den Markt für Staatsanleihen bereits belastet. In einem Interview mit der Zeitung Público sagte Ministerpräsident António Costa jetzt, das „umsichtige Management“ der Staatsschulden Portugals gebe dem Land Ruhe. Er sieht Portugal dadurch vor einem möglichen Schock geschützt, der sich aus der aktuellen politischen Krise in Italien ergeben könne und starke Kursverluste und zunehmende Anleiherenditen zur Folge hat.
Welchen Beitrag zum Wunder leisten deutsche Unternehmen?
In Portugal sind 400 deutsche Unternehmen tätig. Sie brachten es 2016 auf einen Umsatz von rund zehn Milliarden Euro. Fast die Hälfte davon entfiel auf Exporte. Allein die fünf größten deutschen Unternehmen in Portugal beschäftigen 20.000 Mitarbeiter.
Deutsches Unternehmen | Mitarbeiter in Portugal |
Volkswagen Autoeuropa | 5.700 |
Lidl* | 5.200 |
Bosch | 4.800 |
Siemens | 2.150 |
Continental Mabor | 2.038 |
Coindu | 2.000 |
Enercon | 1.500 |
Gabor | 1.400 |
Grohe | 800 |
Preh | 600 |
Leica | 600 |
Eberspächer | 550 |
*Zahlen für Aldi liegen nicht vor. Quellen: CCILA, AICEP, INE, eigene Recherchen
Eine der deutschen Firmen, die in Portugal viele Arbeitsplätze schaffen, ist der Technologiekonzern Bosch. In dessen Technologiezentrum in Braga, das die Bundeskanzlerin besucht, wird zum Beispiel Software für autonom fahrende Autos entwickelt. Bis Ende des Jahres soll der Mitarbeiterstamm dort von 250 auf 400 Angestellt angewachsen sein. Insgesamt stehen bei Bosch in Portugal rund 4.450 Mitarbeiter auf der Gehaltsliste.
Laut der Deutsch-Portugiesischen Industrie- und Handelskammer (CCILA) sind deutsche Unternehmen für mindestens rund 35.000 direkte Arbeitsplätze in Portugal verantwortlich. Geschäftsführer Hans-Joachim Böhmer schätzt, dass es zudem noch etwa 50.000 indirekte Arbeitsplätze durch die Tätigkeit deutscher Firmen in Portugal gibt, vor allem bei lokalen Zulieferern.
Aus der CCILA ist zu hören, dass vor allem die Qualität der Mitarbeiter, insbesondere im Ingenieurbereich, die deutschen Unternehmen begeistert. Gelobt werden auch die ausgezeichneten Fremdsprachenkenntnisse der Portugiesen, eine gute Infrastruktur, das hohe Sicherheitsniveau, die politische Stabilität und die traditionelle Offenheit Portugals für ausländische Investitionen.
Allerdings haben die deutschen Investitionen in Portugal in den letzten Jahrzehnten allmählich abgenommen. Seit der deutschen Wiedervereinigung scheint Portugal vom Radar vieler deutscher Unternehmen verschwunden zu sein. Die Deutsch-Portugiesische Handelskammer versucht, dem entgegenzuwirken. Eine der Auswirkungen: Eberspächer hat 2017 eine Abgastechnik-Fabrik in Tondela eröffnet. Dort wurden 550 Arbeitsplätze geschaffen.
Bislang gingen die deutschen Investitionen in Portugal vor allem in den industriellen Bereich. Jetzt aber kommen mehr und mehr Unternehmen, die auf Wissen und Technologie setzen. Sie wählen Portugal als Standort, weil es hier Ingenieure und IT-Profis gibt, die deutschen Anforderungen gerecht werden können. Aber eine der großen Herausforderungen Portugals in den kommenden Jahren wird es sein, den großen deutschen Bedarf an ausreichend qualifiziertem Personal zu decken. Die Deutsch-Portugiesische Handelskammer hilft wirksam mit Schulungen, welche die Berufsqualifizierung fördern. Zum Beispiel konnten so die hoch spezialisierten Experten herangebildet werden, welche die Leica-Kamerafabrik in Famalicão benötigte.
Welche besondere Rolle spielt Bosch beim Wunder von Portugal?
Bosch forscht in Braga zum Beispiel zum Thema Fahrzeugbewegungen und Positionsbestimmung beim autonomen Fahren. Entwickelt wird hier ein neuartiger, so genannter VMPS-Sensor, ein Gerät mit viel Software. Bosch-Spezialisten führen damit bereits Simulationen durch. VMPS identifiziert die Position des Fahrzeugs an jedem Ort. Der Sensor wird nach Angaben von Manager Carlos Ribas gegenüber der Zeitung Expresso bereits von einem Kunden getestet und soll bis 2020 in Autos eingebaut werden, zusammen mit anderen Geräten, die sicheres und komfortables Fahren "mit Autopilot" ermöglichen. Bis 2025 will der deutsche Technologiekonzern zusammen mit seinen Kunden hundertprozentig autonom fahrende Autos auf die Straße bringen; deutsche Autos, wie man vermuten darf.
Portugal ist für Bosch einer der wichtigsten Unternehmensstandorte im Bereich autonomes Fahren. Auch in Indien und Deutschland gibt es Entwickler, aber Braga wird dem Vernehmen nach in Zukunft eines der stärksten Zentren des Konzerns sein. Neben Entwicklung soll es hier auch Fertigung geben, aber der Focus für den Konzern ist darauf gerichtet, das Wissen und die Fähigkeiten der Mitarbeiter in diesen Bereichen weiterzuentwickeln. Es geht um Forschung auf höchster Ebene, um Ideen für vieles, das noch nicht existiert. Dabei kooperiert Bosch eng mit der Universität von Minho, portugiesischen Computergrafik-Spezialisten, Nanotechnologie-Experten und Kunststoff-Fachleuten.