Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass (1927 bis 2015) war ein enger Freund der Algarve, besaß ein Haus im Raum Portimão. Das dortige städtische Museum zeigt noch bis 4. März 2018 Aquarelle, Radierungen und Plastiken des Multitalents unter den Literaten. Wir waren dort und sagen Ihnen, ob Sie sich auf die Suche nach den Algarve-Spuren des berühmten deutschen Schriftstellers machen sollten.
Wer wissen will, welche Beziehungen Grass tatsächlich zu Portugal pflegte und welche Werke hier, in der Abgeschiedenheit und Ruhe der Atlantikküste entstanden oder beeinflusst wurden, sollte sich, wie ich es gemacht habe, beeilen. Denn die Ausstellung, die Anfang Dezember ihre Tore öffnete, ist nur noch kurze Zeit zu sehen.
Schon im Foyer des Museums, direkt neben dem bunten Pferdefuhrwerk (unser Beitragsbild), stoße ich auf den Autor, der am 16. Oktober 2017 seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte. Ein großformatiges Schwarzweiß-Foto zeigt den Schnurrbärtigen auf einem geschwungenen Sofa sitzend mit einem Radierstift in der Hand, ein Bild neben sich. Signalisiert wird mir: Günter Grass hat hier seine Handschrift hinterlassen. Seine Signatur mit dem kraftvoll geschwungenen Unterstrichen der beiden Gs prangt neben dem Foto.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Begegnungen mit Günter Grass in Portimão
- 2 Grass schrieb, formte, malte, zeichnete an der Algarve
- 3 Grass gewann Tinte aus Fischen
- 4 Grass liebte regionale Naturprodukte
- 5 Grass und die Fische: Zeichnen, zu Wort kommen lassen, verspeisen
- 6 Grass fragte nach Medronho
- 7 Ausstellung zu Grass: mein persönliches Fazit
Begegnungen mit Günter Grass in Portimão
Ich frage am Empfang nach einer Broschüre, nach einem kleinen Katalog zur Grass-Ausstellung, erfahre aber, dass es nichts dergleichen gibt. Nun gut, dann steige ich eben unvorbereitet in die erste Etage, denke ich. Dort empfängt mich ein riesiges, relativ grobkörniges Farbfoto: Günter Grass steht breitbeinig, mit Gummistiefeln an den Füßen, gebückt am Strand, und malt mit einem Stock etwas in den Sand. In der linken Hand hat er ein Zigarillo. Die Szenerie beeindruckt mich. Das Ganze hat Atmosphäre, fängt mich ein, verbindet mich mit der Meeresküste, die nur ein paar hundert Meter von hier liegt.
„Encontros“, auf Deutsch: Begegnungen, steht auf einer Wand in der Tiefe des großzügigen Raumes und darunter nur: Günter Grass. Am meisten stechen mir die vielen bunten Aquarelle ins Auge. Ich suche nach Bezügen zur Algarve, nach Erläuterungen, die mir helfen, die Werke und deren Bezug zum Wirken des Literaten einzuordnen.
Doch da finde ich relativ wenig, einmal abgesehen von der Texttafel direkt am Eingang, unter einem Foto, das den Autor neben seiner Frau Ute sitzend vor einer Steinwand zeigt. Ich lerne:
- Im Mai 1976 kam Grass zum ersten Mal nach Portugal. Es gab eine kleine Serie von Lesungen, die von kleinen Ausstellungen begleitet waren. Auf Einladung des Goethe-Instituts äußerte sich Grass zum Thema „Schriftsteller und Demokratie“.
- 1981 unternahm Grass erste private Reisen nach Portugal. Die Algarve „begeisterte“ ihn, heißt es lakonisch im Text. Gründe nennt er nicht. Das Ehepaar erwarb ein Haus (wo, wird nicht gesagt), besaß es sieben Jahre, verkaufte es dann und baute 1989 neu.
- Anfangs kam die Großfamilie, einschließlich Kindern und Enkeln, mehrfach im Jahr nach Portugal. Später wurden zwei Aufenthalte die Regel – meist im Februar/März und Oktober/November.
- Während dieser Aufenthalte seien viele Zeichnungen und Aquarelle entstanden, lese ich. Eine genaue Zahl wird nicht verraten. „Immer wieder“ habe Grass hier auch Terrakotten geformt.
- In beiden Häusern habe in Grass‘ Werkstatt ein Stehpult gestanden, vor dem der Schriftsteller an Manuskripten arbeitete – mit der Hand oder einer mechanischen Schreibmaschine. Leider kann ich weder Pult noch Schreibmaschine erspähen, nicht einmal Bilder davon.
Doch dann bekomme ich erläutert, was ich dank der bildenden Kunst im Raum ohnehin sehe: „Vielen Zeichnungen und Texten ist abzulesen, was Grass mit Portugal verband“. Fische, Strand, Küste, Vegetation, seine Schuhe und Fundsachen wurden zu Motiven des Künstlers.
Grass schrieb, formte, malte, zeichnete an der Algarve
Das ist dann aber auch fast schon alles, was mir die Ausstellungsmacher an Hilfen bieten, um die Algarve-Liebe von Günter Grass nicht nur zu erkennen, sondern auch zu verstehen. An anderer Stelle bekomme ich unvermittelt ein Zitat aus dem berühmten Werk „Die Blechtrommel“ vor Augen gestellt:
„Das war nicht die sanfte Ostsee, die mich flaschengrün
und mädchenhaft schluchzend erwartete. Da erprobte der
Atlantik sein uraltes Manöver: stürmte bei Flut vor, zog sich
bei Ebbe zurück.“
Worauf genau sich das Blechtrommel-Zitat bezieht, bleibt mir hier in der Ausstellung leider ein Rätsel. Das Schlaginstrument selbst entdecke ich in einer von zwei Glasvitrinen, zusammen mit der Pfeife und einer leeren Tabakdose („Dunhill Early Morning Pipe) sowie Muscheln, Farbe, Pinsel und Malstiften sowie der Skulptur „Mädchen mit Apfel“ aus dem Jahr 1950. Zwei weitere Glasvitrinen zeigen allerhand Bücher des Nobelpreisträgers von 1999, aber auch fünf kleine Privatphotos von Strand- und Haus-Szenen sowie eine Terrakotta-Kröte. In der Mitte des Ausstellungsraumes thront eine beeindruckende Skulptur des Künstlers: eine Hand, die einen Fisch hält. Doch kein Wort verliert die Ausstellung über Grass-Freund José Saramago, seinen portugiesischen Freund und Schriftstellerkollegen, der ein Jahr vor ihm den Literatur-Nobelpreis erhalten hatte. Und verständnisvolle Worte fand, als 2006 bekannt wurde, dass Grass bislang über seine Mitgliedschaft als 17-jähriger Jugendlicher in der Waffen-SS der Nazis geschwiegen hatte.
Aber, siehe da, ein wenig Persönliches, das mir den Algarve-Liebhaber Grass etwas näher bringt, ist doch noch zu entdecken. Neben dem Bild, das mehrere Insekten von der Art Gottesanbeterin zeigt, lese an einer Schrifttafel zum „Vale das Eiras“ (das liegt, ohne ausdrücklich erwähnt zu werden, in der Nähe von Mexilhoeira Grande) mit Datum 8. Januar 1990:
„Gestern habe ich aus vier Chocos Tintenfischen mittlerer Größe eine beinahe gefüllte Dreiviertelliterflasche ‚Sepia Natural‘ gewonnen und damit heute, nach einer vom Herbst des letzten Jahres gut in Alkohol konservierten Vorlage, einen ‚Tanz der Gottesanbeterinnen‘ gezeichnet.
Jung ist die Naturtinte unberechenbar in ihrer Schwärze, später wird sie (manchmal) schwarzbraun konsistent. Der Vorgang des Tintegewinnens – heute gab es die Chocos mit Gemüse gekocht – ist eine Lust. (Zum ersten Mal habe ich diese Tinte Ender der sechziger Jahre in der Bretagne benutzt, dann erst wieder seit Mitte der achtziger Jahre, seitdem ich in Portugal der Quelle nahe bin.)“
Grass gewann Tinte aus Fischen
Aha, Günter Grass hat Tintenfische, wie sie auch hier gefangen werden, erst genutzt, um Farbe fürs Malen und Zeichnen zu „melken“, und sie dann genüsslich verspeist. Genauso, wie er sich auch den Edelfisch Butt einverleibte, ja, ihn so gesehen verinnerlichte. Ein weiteres Textzitat aus dem Grass-Werk „Der Butt“ spielt in der Ausstellung darauf an.
Und noch ein Textschnipsel nimmt Bezug auf die Region hier. In „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“ heißt es in einem Eintrag zum 8. Januar 1991:
„Nach endlichem Schlaf (sechs bis sieben Stunden) und besserem Wetter haben wir Pflanzen gekauft, darunter einen lang aufschießenden, sich weit verzweigenden Kaktus. Pflanzte ihn zwischen drei Rosmarinsetzlinge“.
Kein Wort aber darüber, dass Grass sein Haus in der Gegend zwischen Mexilhoeira Grande und Monchique „Casa Rosmano“ genannt hatte – weil dort wilder Rosmarin wuchs.
Hin und wieder tauchte also die Algarve in den Bildern des vielbegabten Deutschen auf. Warum sie das aber kaum in seinen Büchern tut – darüber erfährt der Besucher der Ausstellung in Portimão leider nichts. Man muss schon manche Nachrufe nachlesen, um mehr über Grass‘ Zuneigung zum Rand Kontinentaleuropas zu erfahren, wo er in der Hitze problemlos über die vereiste Ostsee schreiben konnte. Und das Grass seine Rede zur Annahme des Literatur-Nobelpreises teilweise in Portugal geschrieben hat, wie Claudia Hahn-Rabe berichtet, die Leiterin des Goethe-Instituts, bleibt mir als Ausstellungsbesucher ebenfalls verborgen.
Die Kakteen in seinem kargen, trockenen portugiesischen Garten habe er geliebt, weil sie Überlebenskünstler sind. Sein Gärtner Manuel Martins Barranha berichtete bei der Ausstellungseröffnung, Grass habe gepflegte Rasenflächen verachtet. Um sein Haus herum habe es ein natürliches Wäldchen und viel Gestrüpp gegeben. Der Hausherr habe es geliebt, selbst die Kerne aus den Zapfen der Pinien zu holen.
Grass liebte regionale Naturprodukte
Laut seinem Freund Damião Sequeira, einem ehemaligen Deutschlehrer aus Portimão, ging Grass gerne auf den Bauernmarkt, um regionale Naturprodukte zu kaufen. Selbst gebackenes Brot war ihm ebenso eine Gaumenfreude wie Ziegenmilch vom Nachbarn oder auf den Hügeln gesammelte Pilze. Auch der hiesige Walderdbeer-Schnaps Medronho habe ihm gemundet.
Die Korkeichenwälder, aber auch den weiten Muschelstrand zwischen Alvor und Lagos habe er, der in seinen Texten die Fische Geschichten erzählen ließ, gemocht. Das Gefühl, im wilden Südwesten, am Rande Europas, zu leben, ohne wirklich abgeschieden zu sein, verschaffte ihm offenbar Wohlgefühl, lese ich in Artikeln.
Es wird berichtet, dass Grass deutsche Zeitungen kaufte, die hier erst einen Tag später ankamen, und über Kurzwelle Sendungen der Deutschen Welle hörte. Auch an den Berghängen von Monchique sei der Freund des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago ein Beobachter mit Widerspruchsgeist gewesen, der sich einmischte, gelegentlich seinem Zorn Luft verschaffte. Grass bewunderte die so genannte Nelkenrevolution nach dem 25. April 1974 in Portugal, den Weg der Portugiesen in die Demokratie, hatte vor allem die Algarvios und ihre Landschaft ins Herz geschlossen.
Grass zeichnete den Butt, so lässt sich in einem Literaturarchiv nachlesen, lange bevor er ihn zu Wort kommen ließ, als Roman verarbeitete. Die Urfassung seiner „Unkenrufe“-Kapitel, die er in Portugal zu Papier zu bringen begann, schmückte er mit dicken Krötentieren.
Grass und die Fische: Zeichnen, zu Wort kommen lassen, verspeisen
Nachdem der Meisterliterat den rosafarbenen Barsch gezeichnet hatte, rieb er ihn mit Salz ein, grillte ihn bereitete ihn mit einer Soße aus Öl, Knoblauch und klein geschnittenen Salbeiblättern zu. Gemeinsam mit seiner Frau Ute verzehrte er den Fisch im Freien und trank dazu Vinho Verde. Dann gab Grass der Geschichte „Der Barsch“ noch einen Epilog. Eine weitere Zeichnung zeigt das abgenagte Tier vor portugiesischer Landschaft. Die Gräten starren den Betrachter wie tote Zweige an.
Die ferne und friedliche Algarve – sie war für den berühmten Deutschen genügend einsamer Rückzugsort und Quelle der Inspiration, bot ihm aber auch den Raum für süßes und dennoch „konzentriertes“ Nichtstun abseits des bewegten Lebens in Deutschland. Hier konnte er intensiv an neuen Texten, Bildern oder Skulpturen arbeiten oder einfach faulenzen und genießen.
Seine längste und sichtbarste Verbindung zur Algarve war das Kulturzentrum von São Lourenço in Almancil. Mitgründer der seit 2012 geschlossenen Institution waren Marie Huber und ihr Mann Volker. Marie wohnte der Ausstellungseröffnung in Portimão bei. Erstaunlich finde ich, dass die Ausstellung gar nicht darauf eingeht, wo es doch dort, im Kulturzentrum São Lourenço, viele Buchvorstellungen und Ausstellungen gegeben hatte. Ebenso staune ich darüber, dass die Ausstellung kein Wort darüber verliert, dass Grass im Jahr 2010 die Schirmherrschaft über die erste Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals der Algarve in Lagos übernahm.
Grass fragte nach Medronho
Als es seinem Lebensende zuging, konnte Grass aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr an die geliebte Algarve flüchten. 2012 war er ein letztes Mal in Almancil. Sein Freund Damião Sequeira besuchte den Rekonvaleszenten Ende März 2015 in Behlenburg.
Auf der Ausstellungseröffnung in Portimão berichtete Sequeira: „Als ich die Klinik verließ, hätte ich nie gedacht, ihn zwei Wochen später zu verlieren. Er fragte mich sogar noch, ob ich Medronho mitgebracht hätte…!“
In seinem letzten Buch „Vonne Endlichkait“ fasste Grass seine Abschiedsgefühle in diese Worte:
„Ach, mein verlorenes Portugal, wie fehlt mir
Deine südwestliche Küste.“
Algarve-Liebhaber Günter Grass starb am 13. April 2015 in Lübeck.
Ausstellung zu Grass: mein persönliches Fazit
Mein persönliches Fazit zur Ausstellung „Encontros“: Es ist empfehlenswert, sie sich noch in Portimão anzuschauen. Wer viele persönliche Verbindungen zwischen Grass und der Algarve entdecken möchte, wird allerdings das Gefühl nicht los, dass dies alles etwas menschlicher, farbiger, authentischer hätte präsentiert werden können. Museumsdidaktik empfiehlt heutzutage andere, bessere Vermittlungsformen, die inspirierender sind.
Das meiste ist schlicht aufgehängt und hingestellt, es fehlen erhellende, präzise Erläuterungen, die Zusammenhänge herstellen. Vieles bleibt im Allgemeinen, Unscharfen. Vermutlich weil die Ausstellung auch noch an anderen Orten gezeigt werden soll, ist der Algarve-Bezug wenig explizit, steht generell eher der Portugal-Freund Grass im Vordergrund. Alles in allem jedoch lohnt sich ein Besuch – allein schon deshalb, weil der Besucher eindrucksvoll die künstlerische Vielfalt im Schaffen des Schriftstellers Günter Grass erlebt.
Die kostenlos zu besichtigende Ausstellung „Encontros“ ist ein Projekt des Goethe-Instituts Portugal in Zusammenarbeit mit der Günter und Ute Grass-Stiftung, dem Günter Grass-Haus in Lübeck sowie dem Museum und der Stadt Portimão. Sie wird unterstützt von der Deutschen Botschaft in Lissabon und der Bartholomäusbrüderschaft der Deutschen in Lissabon und Niepoort.
Museu de Portimão
Rua D. Carlos – Zona Ribeirinha
8500–607 Portimão
Öffnungszeiten: Dienstags 14:30 bis 18 Uhr, mittwochs bis sonntags: 10 bis 16:30 Uhr
Telefon: +351 282 405 230, E‑Mail: museu@cm-portimao.pt